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Sind introvertierte und schüchterne Menschen nicht dasselbe? Das habe ich früher gedacht, stimmt aber nicht. Von außen betrachtet sind sie kaum zu unterscheiden. Dabei sind sie grundverschieden und seit einigen Jahren gesellt sich ein dritter Begriff dazu: Hochsensibilität.
Introvertiertheit oder die Kunst den Akku ohne Netz aus Menschen aufzuladen
Introvertierte fühlen sich alleine wohl. Das heißt nicht, dass wir asoziale Menschenfresser sind. Nur, dass wir regelmäßig Auszeit von unseren Mitmenschen brauchen.
Im Kern holen sich Introvertierte ihre Energie im Alleinsein im Gegensatz zu Extravertierten, die ihre Batterien gerne unter Leuten aufladen.
Das ist zwar nicht die einzige Eigenheit von Introvertierten, sie ist aber der wichtigste Unterschied zu Extravertierten.
Für introvertierte Selbstständige sind Verkaufen und Marketing ein besonderer Gruselclown aus dem Horrorkabinett. Marketing bedeutet Kommunikation mit fremden Menschen, um sie zu überzeugen, bei uns zu kaufen. Wir müssen aus unserer wohlig warmen Höhle und vor den Vorhang treten.
Viele glauben, dass Werbung nur laut, pushy und bombastisch ist. Alles das, was Introvertierte nicht sind.
Susan Cain, die Queen B der Introvertierten meint dazu, dass in der westlichen Kultur Extravertiertheit als Ideal angesehen wird.
In der Einleitung zu ihrem Bestseller Quiet: The power of introverts in a world that can’t stop talking nennt sie dieses extravertierte Ideal:
“The omnipresent belief that the ideal self is gregarious, alpha and comfortable in the spotlight.”
Sie führt das auf die griechisch-römische Tradition der Rhetorik und Rede zurück. Lautes, selbstsicheres Reden und Vorlesen vor einem Publikum war in der Antike eine hohe Kunst. Unser Leseverhalten änderte sich erst durch die massenhafte Verbreitung von Büchern durch den Buchdruck vom lauten Vorlesen zum stillen Lesen alleine im Kämmerchen.
Susan Cain und andere haben mittlerweile erkannt, dass Selbstständige ohne Marktschreierei oder fade Inhalte verkaufen können.
Hochsensibilität oder Reizüberflutung als Normalzustand
Introvertierte und Hochsensible haben viel gemeinsam und dass die meisten Hochsensiblen auch introvertiert sind (ca. 70 %), ist keine Überraschung.
Vor einiger Zeit habe ich mich mal gefragt, warum ich mich nicht an die Handlung vom ersten Transformers-Film erinnern kann. Ich war mir sicher, dass der Plot nicht soooo komplex sein kann. Dann habe ich gegoogelt und siehe da: Ich bin auf Lindsay Ellis gestoßen.
Sie produziert tolle Video-Essays auf YouTube und machte mir in einem ihrer Videos klar, dass es nicht nur mir so geht. Michael Bays Regiestil überreizt unsere Gehirne. Auf dem Bildschirm ist immer etwas los und der Schnitt ist rasend schnell.
Der Kern der Hochsensibilität ist, dass jeder Reiz ungefiltert zum Gehirn gelangt und schnell zu Überforderung führt.
Bei Introvertierten sind es vor allem soziale Reize, also die Interaktion mit vielen Menschen, die sie auslaugen.
Reize, die zu einem Overload bei Hochsensiblen führen können, sind vielfältig und kommen von außen oder innen. Hochsensible können stärker auf Koffein, laute Geräusche, Schmerzen, grelle Lichter, soziale Kontakte, Horrorfilme etc. reagieren. Bei den meisten Hochsensiblen tragen nicht alle Reize dazu bei, dass sie sich überfordert fühlen.
Das ist ein Grund, warum sich Forschung schwierig gestaltet, weil es sich bei Hochsensibilität nicht um ein starres Konstrukt oder eine Checkliste handelt, die man einfach erfüllt oder eben nicht. Das heißt aber nicht, dass Hochsensibilität nicht existiert.
Elaine Aron ist die Pionierin auf diesem Gebiet. Ihrer Meinung nach wurde Hochsensibilität lange nicht erkannt, weil sie mit Schüchternheit, Introversion oder Neurotizismus verwechselt wurde.
Diese Merkmale würden erst durch Hochsensibilität, die wohl genetisch bedingt sei, entstehen.
Hochsensible sind außerdem empathischer, da sie die Gefühle und Stimmungslagen anderer Menschen intensiver wahrnehmen.
Sie sind auf dem Empathiespektrum zwischen Narzissten mit wenig bis gar keiner Empathie und Empathen mit sehr viel Empathie.
Stichwort Spektrum: Das gilt für alle diese Begriffe. Niemand von uns ist 100 oder 0 % introvertiert / hochsensibel / schüchtern. Wir alle befinden uns irgendwo dazwischen.
Schüchternheit oder die Angst vor neuen (zwischenmenschlichen) Situationen
Schüchterne fühlen sich unwohl in sozialen Begegnungen. Sie haben Angst, etwas Falsches zu sagen und dass sie von anderen Personen abgelehnt oder ausgelacht werden. Sie legen zu viel Wert darauf, was andere Menschen von ihnen denken, und handeln aus Vorsicht lieber gar nicht.
Introvertierte (oder auch Hochsensible) haben diese Ängste nicht unbedingt. Sie sind einfach stiller oder ihnen werden die vielen Sinneseindrücke zu viel und sie ziehen sich zurück.
Auch bei Schüchternheit sind sich Forscher nicht sicher, ob es sich um angeborenes, erlerntes Verhalten oder eine Mischung aus beiden handelt.
Einige Experten tendieren dazu, Schüchternheit als erlerntes Verhalten zu sehen. Für Schüchternheit brauchen Menschen eine Selbstwahrnehmung, die Babys noch nicht haben. Wir nehmen unser Selbst erst im frühen Kindesalter wahr. Kinder, die ein halbes Jahr alt sind und sich im Spiegel sehen, versuchen den Spiegel zu berühren, als wäre das Bild ein anderes Kind (so wie Katzen). Das bedeutet aber nicht, dass genetische Komponenten keine Rolle spielen.
Wie auch immer die Zusammensetzung des Schüchternheitscocktails aussieht: Schüchternheit kann man ablegen oder wieder verlernen. Introversion und Hochsensibilität sind Persönlichkeitsmerkmale bzw. Temperamentsmerkmale, die wir uns nicht einfach abhacken können wie einen sechsten Finger.
Ich war in meiner Kindheit und Jugend auch schüchtern und habe das irgendwann wieder verlernt. Ich habe Erfahrungen gesammelt, dass mir nichts Schlimmes passiert, wenn ich mal einen kleinen Fehler mache oder eine andere Meinung habe.
Damit kommen wir zum Kern der Schüchternheit, der Angst, zurück. Wir Menschen überwinden Ängste nicht, indem wir sie vermeiden, sondern indem wir uns ihnen stellen und dabei in Summe mehr positive Erfahrungen machen als negative.
Wir sind mehr als die Summe unserer Persönlichkeitsmerkmale
Egal ob introvertiert, hochsensibel oder schüchtern: Persönlichkeitstests wie der Myers-Briggs-Typenindikator sind beliebt und Forscher finden immer mehr heraus, was unsere Persönlichkeit ausmacht und warum wir so ticken wie wir ticken.
Gleichzeitig werden Tests und Merkmale wie Hochsensibilität von Experten oft kritisch gesehen. Zum einen, weil die Forschung noch zu dünn ist, zum anderen, weil sie der Meinung sind, dass Menschen nicht nur in 16 Schachteln passen.
Ich mag den Myers-Briggs-Test ja gerne (huhu INFJ hier!), weil er mir klar gemacht hat, warum ich mich in bestimmten Situationen auf eine bestimmte Weise verhalte. Mir ist aber auch klar, dass ein Test, den man geschwind im Internet ausfüllen kann, nicht der Heilige Gral der Persönlichkeitsentwicklung sein kann. Manche Eigenschaften sind besser erforscht als andere.
Auch wenn Psychologen zu Vorsicht mahnen, wenn wir uns selbst Persönlichkeitsmerkmale zuschreiben, sind sich die meisten einig: Sich selbst kennen ist entlastend und bringt etwas Ordnung ins chaotische Leben.
Bist du introvertiert, hochsensibel, schüchtern oder alles? Wie stehst du zu Persönlichkeitstests? Schreibe es gerne in die Kommentare!